Sonntag, 27. November 2011

"Beim Lernen ist weniger mehr" und "Schüler im Doppeljahrgang fühlen sich wie Versuchskaninschen" - Weserkurier am 27.11.11

Eine ganze Seite widmet der Weserkurier dem Lernen. Ein ausführliches Interview mit dem Bremer Hirnforscher Gerhard Roth über den "schnelleren" Weg zum Abitur wird gefolgt von Einzelinterviews mit Bremer Schülerinnen über ihre Erfahrungen mit dem Turbo-Abitur.

Der Weserkurier hat uns freundlicherweise den vollständigen Abdruck beider Artikel erlaubt.

Beim Lernen ist weniger mehr



Auch Bremen hat sein Schulsystem so umgebaut, dass Gymnasiasten nun schon nach zwölf Jahren Abi machen. Im Mai verlassen deshalb zwei Schülerjahrgänge die Gymnasien: der letzte Jahrgang, der die Abschlussprüfungen nach 13 Jahren ablegt, und der erste, der nach zwölf Jahren Abi macht. Unsere Redakteurin Elke Gundel sprach mit dem Bremer Hirnforscher Gerhard Roth über den schnelleren Weg zum Abitur. Was passiert beim Lernen im Gehirn?

Gerhard Roth: Lernen ist nicht einfach Wissensvermittlung. Ob das, was ein Lehrer sagt, im Gedächtnis seiner Schüler haften bleibt, hängt entscheidend davon ab, ob der Lehrer glaubwürdig ist. Ebenso wichtig ist die Motivation der Schüler - ob ihnen also Bildung wichtig ist.
Kinder oder Jugendliche haben doch nicht im Kopf, dass Bildung für sie wichtig ist. Sie haben da vielleicht etwas von ihren Eltern übernommen… … Das ist der allerwichtigste Faktor: das Elternhaus. Die Entwicklung von Intelligenz und Persönlichkeit geschieht von Geburt an. Am wichtigsten ist dabei die ganz frühe Sozialisierung. Wir lernen, ob unsere Eltern friedlich miteinander umgehen, ob sie diskutieren, ob es überhaupt irgendeine Gesprächsbereitschaft gibt. Das alles nehmen Kinder auf, das prägt ihre Psyche ganz schnell und tief. Wie wichtig die Einübung dieser ganz frühen Fertigkeiten, zuzuhören, sich zu konzentrieren, ist, wird um Größenordnungen unterschätzt.
Zurück zu der Frage, was das Gehirn beim Lernen leistet. Was passiert da? Unser Gedächtnis arbeitet sehr langsam. Deshalb gilt: Weniger ist mehr. Der Teil des Gehirns, den wir brauchen, wenn wir neue Sachen lernen, ist das Arbeitsgedächtnis. Es ist gefordert, wenn man zum Beispiel einem Lehrer zuhören muss, wenn man konzentriert etwas liest oder überlegen muss. Das ist unser kognitiver Engpass.
Kann man sich das in etwa so vorstellen wie den Arbeitsspeicher beim Computer? Genau. Wenn am Computer überhaupt etwas so ähnlich ist wie unser Gehirn, dann der Arbeitsspeicher. Wenn ich einen begrenzten Arbeitsspeicher habe, aber mit riesigen Dateien umgehen muss, dann blockiert der Computer, stürzt ab, oder es geht unendlich langsam.
Menschen sind verschieden. Der eine lernt schneller, der andere langsamer.
Auch die Intelligentesten von uns scheitern nach ein paar Minuten, wenn sie einer Sache konzentriert folgen müssen. Niemand schafft das sehr viel länger als etwa fünf Minuten. Dann braucht jeder eine Pause.
Unser Arbeitsgedächtnis kann nur etwa fünf Minuten am Stück arbeiten?
Unsere Leistungsfähigkeit hängt von unserem Vorwissen ab und von der Kapazität unseres Arbeitsgedächtnisses, also unserer Intelligenz. Wer sehr intelligent ist, viel weiß und schnell denken kann, der kann vielleicht sechs Minuten konzentriert zuhören. Jemand, der von eher bescheidener Geistesgröße ist und nicht so viel weiß, der steigt vielleicht nach drei Minuten aus. Irgendwann steigt jeder aus. Das bedeutet: Das Arbeitsgedächtnis kommt nicht mehr mit und schiebt die neuen Informationen einfach weg. Damit etwas wirklich haften bleibt, muss es aus dem Arbeitsgedächtnis in einen Zwischenspeicher des Gehirns gelangen und von dort in den Langzeitspeicher. Dorthin kommt aber nur das, was das Arbeitsgedächtnis sinnvoll verarbeitet hat. Also wenn wir subjektiv das Gefühl haben, ich hab's verstanden. Wenn mein Gehirn sagt, das verstehe ich nicht, dann wird diese Information in den Mülleimer geschmissen. Man hätte sich das dann sparen können.
Was bedeutet das für den Schulunterricht? Ein Lehrer muss so schnell beziehungsweise so langsam, so lange beziehungsweise so kurz reden, wie es für das Arbeitsgedächtnis gerade noch erträglich ist. Also etwa drei bis fünf Minuten. Dann muss er für etwa 15 bis 30 Sekunden eine Pause in der Informationsvermittlung machen - vielleicht durch einen Scherz oder ein Beispiel. Das genügt schon, damit das Arbeitsgedächtnis einmal Atem holen kann. Ein Lehrer muss seinen Unterricht in solchen Fünf-Minuten-Segmenten mit kurzen Pausen aufbauen. Zum Schluss muss er das Ganze noch einmal zusammenfassen. Jeder gute Redner weiß das.
Dann könnte man ja sagen, man muss den Unterricht nur in diesem Rhythmus gestalten, dann kann man da beliebig viel reinquetschen.
Dieser Fünf-Minuten-Rhythmus ist nur der atomare Bereich. Der Unterricht als solcher muss über den ganzen Tag verteilt auch eine bestimmte Struktur haben. Erst eine Vorbesprechung, um herauszufinden, was die Schüler schon wissen. Dann Frontalunterricht, um Inhalte zu vermitteln. Danach muss aber unbedingt Gruppenarbeit und Einzelarbeit folgen, damit man sich das, was man vorher gehört hat, intensiv aneignen kann. Wichtig ist auch, dass diese neuen Inhalte nach drei Wochen und noch einmal nach drei Monaten wiederholt werden. Dann kann man davon ausgehen, dass das Thema wirklich im Gedächtnis haften bleibt.
Und das alles in einer Unterrichtsstunde, also in 45 Minuten? Ein Thema sollte einen ganzen Tag, etwa sechs Stunden lang, aus verschiedenen fachlichen Blickrichtungen behandelt werden. Nach sechs Stunden wandern neue Inhalte so langsam ins Langzeitgedächtnis. Man könnte sich zum Beispiel das Thema "Pyramidenbau" vornehmen - dabei könnte man Geschichte, Mathe und Physik machen und das Ganze in verschiedenen Sprachen behandeln. Ich habe seit einigen Jahren einen engen Kontakt zur Gesamtschule Ost. Mit etwa 30 sehr engagierten Lehrern habe ich dort intensiv diskutiert, wie guter Unterricht aussehen kann. Mit der Schulleitung ist verabredet, dass an der Schule nächstes Schuljahr ein Modell getestet wird, dass auf den Grundsätzen beruht, die ich gerade skizziert habe.
Wie lange soll dieses Modell laufen? Zwei bis drei Jahre. Wir bemühen uns gerade um finanzielle Unterstützung durch eine große Stiftung, die das Projekt dann auch wissenschaftlich begleiten wird.
Zurück zur Unterrichtsstruktur: Warum die Wiederholungen nach drei Wochen und drei Monaten? Unser Gedächtnis arbeitet sehr langsam. Die erste Hürde ist, dass ich aktuell nicht zu viel anbiete. Denn zu große Herausforderungen sind für unser Gehirn genauso schlecht wie gar keine Herausforderungen. Alle neuen Eindrücke, die wir aufnehmen, haben außerdem die Tendenz, sich gegenseitig zu verdrängen. Es verschwindet zwar nicht aus dem Gedächtnis, es sinkt aber immer weiter ab. Irgendwann ist es so weit abgesunken, dass wir nicht mehr herankommen. Wenn man neue Inhalte wiederholt, holt man sie ins Gedächtnis zurück und verknüpft sie mit anderen Informationen. Dadurch fällt es uns später leichter, wieder darauf zuzugreifen.
Was bedeutet das für das Abitur nach zwölf beziehungsweise nach 13 Jahren? Das Fatale ist, dass man in dem verkürzten Bildungsgang denselben Stoff, der bisher in neun Jahren Gymnasium unterrichtet worden ist, jetzt in acht Jahre packt. Das bedeutet, dass die Schüler pro Jahr mehr lernen müssen. Das ist das, was man auf keinen Fall machen darf. Das ist Wahnsinn. Der umgekehrte Weg wäre richtig: Die ganzen 13 Jahre auszuschöpfen und dabei auch noch den Stoff radikal zu reduzieren.
Gegen ein Abi nach zwölf Jahren hätten Sie nichts, wenn der Stoff reduziert und die Didaktik verbessert würde? Dann wäre es vom Lerntempo her in Ordnung. Aber dann stellt sich immer noch die Frage, warum Jugendliche schon mit 17 auf den Arbeitsmarkt oder ins Studium müssen. Es ist doch eine Illusion zu glauben, dass man es bei 17-Jährigen mit reifen Persönlichkeiten zu tun hat. Dieses eine Jahr mehr bis zum Abitur ist nicht nur für die Wissensaneignung, sondern auch für die Entwicklung der Persönlichkeit wichtig. Jedes Jahr in einer guten Schule ist ein wunderbar angelegtes Jahr.

© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: KAS Bremen Süd Seite: 13 Datum: 27.11.2011



Schüler im Doppeljahrgang fühlen sich ein wenig wie Versuchskaninchen 

Bremen (keg). Die Gymnasiasten, die im Frühjahr Abi machen, sind in einer ganz besonderen Situation. Zum ersten und zum letzten Mal haben zwei Jahrgänge die Oberstufe gemeinsam durchlaufen: der letzte Jahrgang, der die Abschlussprüfungen nach 13 Jahren ablegt, und der erste Jahrgang im verkürzten Bildungsgang. Wie haben die Schülerinnen und Schüler das erlebt? Drei junge Frauen aus dem Alexander-von-Humboldt-Gymnasium in Huchting schildern ihre Erfahrungen.
Julia Niedzwiecki (18): Ich bin seit der 10. Klasse hier am Gymnasium, ich mache mein Abi nach 13 Jahren. Die Lehrer haben uns schon früh gesagt, dass wir in der Oberstufe mit Schülern zusammen sein würden, die zwei Jahre jünger sind als wir. Tatsächlich lag der Altersunterschied dann teilweise bei fünf bis sechs Jahren. In der Einführungsphase (erstes Jahr der Oberstufe) sind beide Jahrgänge in Mathe getrennt unterrichtet worden. Dabei hatten die Jüngeren auch in anderen Fächern Defizite. Die Unterschiede waren im ersten Jahr schon groß. Inzwischen merkt man es nicht mehr. Allerdings sind auch viele Schüler weggegangen, die mit den hohen Anforderungen nicht klargekommen sind. Ein bisschen habe ich mich als Versuchskaninchen gefühlt, und ich habe mich geärgert, dass ausgerechnet ich in diesen Doppeljahrgang gerutscht bin. Wir sind etwa 150 Schüler in der Jahrgangsstufe, vorher waren wir 80 oder 90. Viele meiner Mitschüler in der Stufe kenne ich gar nicht, weil wir keinen gemeinsamen Unterricht haben. Ich werde bald 19, weiß aber noch nicht, wo ich nach der Schule hin will. Wenn es mir schon so geht, dann frage ich mich, wie sollen das 17-Jährige wissen? Ich finde es unverantwortlich, Jugendliche schon mit 17 ins Studium zu schicken, nur weil die Betriebe Fachleute brauchen. Ich bin ganz froh, dass ich erst nach 13 Jahren Abitur mache.
Wiebke Petershagen (18): Ich bin seit der fünften Klasse hier am Gymnasium und machen nach der 12. Klasse Abitur. Schon der Wechsel von der Grundschule in die 5. Klasse war stressig, weil die Anforderungen am Gymnasium viel höher waren. Deshalb hatte ich schon ein bisschen Bammel vor dem Übergang von der 9. Klasse in die Oberstufe, noch dazu, weil wir dann mit den älteren Schülern zusammen Unterricht hatten. In der ersten Zeit waren die Stundenpläne unmöglich, teilweise hatten wir bis zur 10. Stunde Unterricht. Wir Jüngeren hatten zwar generell mehr Unterricht als die älteren Schüler. Allerdings nicht unbedingt in den Fächern, wo es wirklich nötig gewesen wäre, wie zum Beispiel in Englisch und Spanisch. Dadurch, dass wir ein Jahr weniger machen, herrschte immer Druck: Wir müssen denselben Stoff in zwölf Jahren schaffen, ich möchte aber trotzdem ein gutes Abi machen. Durch das fehlende Schuljahr ist ein Jahr meiner Jugend weg, denn ich habe mich eher an die älteren Schüler angepasst, musste ganz schnell erwachsen werden und - zumindest nach außen hin - reifer sein. Ein 13. Schuljahr würde ich jetzt gar nicht mehr machen wollen, mir reicht der Stress bisher. Der Druck ist auch im Hinblick aufs Studium groß: Weil durch den Doppeljahrgang und den Wegfall der Wehrpflicht viel mehr Leute anfangen zu studieren, ist der Numerus clausus in diesem Jahr besonders hoch. Ich frage mich, was aus den Leuten wird, die keinen Studienplatz kriegen.
Amelie Greif (17): Ich bin seit der 7. Klasse hier an der Schule und mache nach zwölf Jahren Abitur. Ich hätte in der Oberstufe gerne zusätzlichen Unterricht in Englisch gehabt, denn ich habe immer wieder gemerkt, dass mir bei den Vokabeln im Vergleich zu den älteren Schülern einiges fehlt. Ich habe Spanisch auch nach der 9. Klasse abgewählt, weil ich den Eindruck hatte, dass ich mit den älteren Schülern nicht mithalten kann. Ich würde gerne noch ein 13. Jahr in die Schule gehen, einfach, um noch ein Jahr lang Erfahrungen zu sammeln. Ich habe kein Problem mit dem Lernen, das macht mir keinen Stress. Aber ich merke, ich vergesse den Stoff ganz schnell wieder, weil ich mich schon wieder mit neuen Sachen beschäftigen muss. Ich habe mich auch etwas als Versuchskaninchen gefühlt, das war aber nicht schlimm. Dadurch, dass wir mit älteren Schülern zusammen waren, haben wir andere Erfahrungen gemacht, das fand ich eher positiv. Ich weiß noch nicht, was ich nach der Schule machen möchte. Ich will auf jeden Fall studieren, aber ich würde auch gerne etwas anderes erleben als Schule oder Studium. Vielleicht gehe ich für ein Jahr ins Ausland, das sagen viele Mitschüler. Ich schätze, dass nur vielleicht 20 Prozent von ihnen sofort anfangen zu studieren.



© Copyright Bremer Tageszeitungen AG Ausgabe: KAS Bremen Süd Seite: 13 Datum: 27.11.2011




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